Die Geschichte des Judo
Der 13-jährige Jigoro Kano, geboren am 20. Oktober 1860 als fünfter Sohn einer sehr wohlhabenden Familie aus Mikage, Japan, interessiert sich stark für die westliche Kultur. Da ihm der Unterricht an seiner ersten Schule, einer Privatschule, nicht mehr genügt, schreibt er sich an der Ikuei Gijuku ein, einer Schule, an der ausschließlich holländische, englische und deutsche Lehrer unterrichten. Kano ist ein hervorragender Schüler, aber fühlt sich an der Schule nicht wohl. Seine Mitschüler neiden ihm seine Intelligenz und stören sich an seinem guten Benehmen. Er wird von den meist älteren und stärkeren Schülern drangsaliert und beschimpft. Kano erträgt es jedoch und versucht sich auf sein Studium zu konzentrieren. Als ihm ein befreundeter Mitschüler von einer Kampfkunst – Jujutsu – erzählt, die es auch Kleineren und Schwächeren ermöglicht, sich gegen größere und stärkere Angreifer zur Wehr zu setzen, glaubt er so seine Probleme lösen zu können. Er findet jedoch keine Zeit neben seinen Studien, sich der Kampfkunst zu widmen, und versucht, seinen Körper mit europäischen Sportarten wie Rudern und Geräteturnen zu stärken. Kano wechselt an die Fremdsprachenschule Tokyo. Das Englisch, das er bei seinen deutschen und holländischen Lehrern erlernt hat, stellt sich als recht unbrauchbar heraus. Also konzentriert er sich jetzt ganz auf das Studium der englischen Sprache und kann die Schule bald mit Auszeichnung abschließen. Das Jujutsu ist vergessen.
Der nun 17-jährige Kano entschließt sich ein Studium der Politikwissenschaften, Philosophie und Literatur an der Kaiserlichen Universität Tokyo zu beginnen. Hier trifft er wieder auf sein altes Problem, andere Studenten lauern ihm böswillig auf und verprügeln ihn. Er erinnert sich an den Bericht seines Freundes über die Kampfkunst Jujutsu und beschließt nun doch, nach einem Jujutsu-Meister zu suchen, der ihn in seine Schule aufnimmt und unterrichtet. Die Suche ist jedoch anfänglich erfolglos und auch sein Vater zeigt sich über diesen Wunsch verärgert. Zu diesem Zeitpunkt ist das politische und kulturelle Bild in Japan schon stark westlich geprägt. Das Interesse an den Kampfkünsten der alten Kriegerkaste, der Samurai, schwindet. Kano gibt nicht auf und findet einen Meister, der ihn unterrichtet – Fukuda Hachinosuke. Meister Fuduka unterrichtet in der Stilrichtung Tenshin shiyoryu, die den waffenlosen Kampf zum Prinzip hat. Durch Atemi (Stöße und Tritte) werden die Vitalpunkte des Gegners anvisiert und dieser außer Gefecht gesetzt. Außerdem kann der Gegner durch Osae-Waza (Festhaltetechniken) festgelegt und durch Shime-Waza (Würgetechniken) zur Aufgabe gezwungen werden. Jigoro Kano ist oftmals der einzige Schüler, aber dafür ein sehr wissbegieriger und fleißiger Student, sodass Fukuda beginnt ihn persönlich zu unterrichten. Er gehört bald zu den Besten der Besten. 1880 stirbt Meister Fukuda. Kano versucht die Schule weiter zu führen. Allerdings reicht sein Wissen noch nicht aus, und er bittet Isa Masatomo, auch einen Meister der Stilrichtung Tenshin shinyo ryu, ihn zu unterrichten. Masatomo macht Kano mit einem neuen Aspekt des Trainings bekannt. Während Fukuda viel Wert auf Zweikampfübungen gelegt hatte, konzentriert sich Masatomo auf Katas. Kano widmet sich auch diesem Training, wie es seiner Art entspricht mit voller Hingabe täglich über viele Stunden hinweg. Nach einem Jahr des Studiums stirbt auch Masatomo. Kano sucht und findet erneut einen Meister – Tsunetoshi Iikubo. Dieser hat sich dem Stil Kito ryu verschrieben, bei dem die Perfektion der Nage-Waza (Wurftechniken) im Vordergrund steht. Gemeinsam mit zwei seiner Lehrer, Prof. Ernest Fenollosa und Hofrat Dr. Baelz, die sich sehr für die östliche Kultur und die Kampfkünste interessieren, gründet er an der Universität eine Interessengemeinschaft für Jujutsu. Bald ist Kano so weit, dass es ihm gelingt, selbst Meister Iikubo in den Zweikämpfen zu besiegen. Dass er jede Gelegenheit benutzt, um seine Überlegenheit gegenüber seinen Mitschülern und seinem Meister zu zeigen, macht Iikubo ärgerlich und er schließt ihn 1882 aus seiner Schule aus. In der Zwischenzeit hat Kano aber auch sein Studium an der Kaiserlichen Universität nicht vernachlässigt und es 1881 mit bestmöglichen Noten abgeschlossen. Es hält ihn nun nichts mehr an der Universität, und er verlässt sie.
Judo im Kodokan
In der Folgezeit widmet Kano sich intensiv der Aufgabe, die alten Lehren des Jujutsu zu erhalten, und gründet dazu im Eisho ji-Tempel eine eigene Schule – den Kodokan, die Schule zum Studium des Weges. Kano weiß, dass es schwer werden wird, den Verfall des Jujutsu aufzuhalten. Er entschließt sich, zur Erfüllung dieser Aufgabe die Vorteile der Stile Tenshin shinyoryu und Kito ryu zu vereinen und sie zeitgemäß anzupassen. Dies führt dazu, dass er die starke kämpferische Betonung des Jujutsu zurückdrängt und das Weiche in den Vordergrund setzt. Deshalb gibt er diesem Stil den Namen Ju do – der sanfte Weg. Auch die am Anfang noch enthaltenen Atemi-waza entfernt Kano später aus seinen Lehren und macht das Judo damit wettkampftauglich. Schnell findet Kano seinen ersten Schüler. Nachdem beim Training mehrere Einrichtungsgegenstände beschädigt werden, verbieten die Mönche des Tempels jegliches Training. Dem Kodokan, eben erst gegründet, droht die Schließung. Kano bittet die Mönche noch einmal um ihr Verständnis und erhält die Möglichkeit, in einem kleinen Raum einen Dojo einzurichten und das Training fortzuführen. Ab dieser Zeit geht es etwas aufwärts. Er gewinnt Meister Iikubo als Lehrer für sein Dojo, auch wenn der sich weigert Kano selbst zu unterrichten. Er findet eine Anstellung als Lehrer in einer Adelsschule. Kurz danach baut er auf dem Grundstück seines Mietshauses eine kleine Trainingshalle. Dort unterrichtet er seine Schüler jetzt täglich. Er kann da Vertrauen seines Meisters Iikubo zurückgewinnen und bekommt von ihm wieder unterricht. Während dieser Zeit findet Kano das eigentliche Prinzip für sein Judo. Das Prinzip des Nachgeben. Am Ende des Jahres 1883 hat Kano dann so große Fortschritte gemacht, dass er von seinem Meister Iikubo die Lehrerlizenz Menkyo kaiden verliehen bekommt.
Anfang 1884 baut Kano einen größeren Dojo führt feste Trainingszeiten ein Weiterhin übernimmt er aus einer anderen alten Kampfkunst ein Rangsystem – da Kyudan – das ihm ermöglicht, die Fortschritte seiner Schüler in Grade einzuteilen. Einer seiner ersten Schüler, Saigo Shiro, der auch einer der ersten beiden Träger des 1. Dan in Kanos neuem System ist, ist für Kano immer wieder ein willkommener Gegner in den Übungskämpfen. Saigo kommt aus der Schule einer anderen Kampfsportart, dem Aikijutsu. Er gewinnt regelmäßig die Zweikämpfe mit Kano. Kano lernt aus seinen Niederlagen und aus den Beobachtungen seiner Schüler. Er überarbeitet ständig sein System. Zur Finanzierung seiner Schule und des Kodokans muss Kano nun aber dazu übergehen, für seinen Kampfsport öffentlich zu werben. Er führt in den festen Zeiten ein Massentraining durch und unterrichtet außerhalb dieser Zeiten seine besten Schüler persönlich und weiht sie in die tieferen Geheimnisse der Kampfkünste ein. Diese wenigen persönlichen Schüler leben im Dojo und bekommen von Kano außerdem Unterricht in Wirtschaft, Politikwissenschaften, Psychologie und Philosophie.
Die Zahl der Anhänger des Judo steigt rapide an. An der Tokyoter Universität wird Judo als Lehrfach eingeführt. Dies ist vor allem Dr. Baelz zu verdanken, der als kaiserlicher Leibarzt entsprechenden Einfluss geltend machen kann.
1885 nahm Kano dann die ersten ausländischen Schüler auf. Das Bitten um die Aufnahme als Schüler nimmt kein Ende und Kano ist ein weiters Mal gezwungen umzuziehen und einen größeren Dojo zu bauen. Dort wird ab dem 1 Dan der schwarze Gürtel getragen um die Meisterschüler von den anderen Judoschülern zu unterscheiden. Den Unterricht kann er nicht mehr selbst bewältigen und er überträgt seinen persönlichen Schülern die Funktion als Hilfsausbilder.
Der Durchbruch, Judo zum Volkssport zu machen, gelingt Kano dann bei einem, Turnier gegen Kämpfer der Tokyoter Polizeischule. Seit langem beherrschen Rivalitäten das Klima zwischen dem Kodokan und den traditionellen Schulen der Kampfkünste. Kano hatte inzwischen viele Werte des Budo aus seinem System genommen, um Judo las Massensport tauglich zu machen. Diesen Verlust der ursprünglichen Tradition lehnen die alten Meister ab. Zwischen dem Kodokan und der Polizeischule wird ein Wettkampf vereinbart, bei dem sich die 15 besten Kämpfer messen sollen. Die Wettkämpfe werden nach den Regeln des Judo durchgeführt, wodurch alle gefährlichen Techniken verboten sind. So kommt es, dass die Kämpfer des Kodokan von Beginn an im Vorteil sind und zwei Drittel der Kämpfe gewinnen, mehrere Unentschieden erreichen und nur wenige verlieren. Schon kurz danach unterrichten zwei Meisterschüler Kanos an der Polizeischule die Judotechniken, und das japanische Erziehungsministerium macht Judo zum Ausbildungsfach an allen Schulen und Universitäten. Der Kodokan hat mittlerweile mehr als 1500 Mitglieder. Auf Grund der Verbreitung des Judo im eigenen Land und im Ausland beschließt Kano mit seinen engsten Vertrauten und Meistern Yamashitam, Nagaoke und Yokoyama, ein Unterrichtssystem zu entwerfen. Am Ende steht die Gokyo no waza, die später als Go kyo no kaisetsu bezeichnet und bis auf weinige Änderungen ihre Gültigkeit behalten wird. Kano unternimmt bis ende seines Lebens 13 Weltreisen, auf denen er das Ansehen des Judo ausbaut. Dafür gibt er sogar sein Training auf. Er wird 1909 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitee und bemüht sich unentwegt, Judo als olympische Disziplin anerkennen zu lassen. Am 4. Mai 1938 stirbt Jigoro Kano während der Rückkehr von einer seiner zahlreichen Reisen.
Das moderne Judo
Durch seinen vehementen Einsatz, das Judo zu verbreiten und olympisch zu machen, vernichtet Kano gleichzeitig alle alten Ideale des Budo. Er selbst kritisiert die Überbewertung der Wettkämpfe immer wieder, betreibt aber gleichzeitig deren Etablierung.
1950 wird die Internationale Judo Förderation (IJF) gegründet, und ab 1956 trägt man Weltmeisterschaften aus. Seit 1960 ist Judo olympische Disziplin. Die aufgestellten Wettkampfregeln sorgen dafür, dass die Kampfkunst Judo aufhört zu existieren, und der Sport ins Leben gerufen wird. Den Beweis erbringt Anton Geesink, als er 1961 bei der 3. Weltmeisterschaft in Paris die japanischen Judoka besiegt, ohne dass ihm je die traditionellen Werte vermittelt wurden oder ihn je bei einem Meister trainiert zu haben. Der Sport wandelt sich in den Jahren schnell. Es werden Gewichtsklassen eingeführt und der Katalog der erlaubten und verbotenen Handlungen immer wieder erneuert. Über Sieg und Niederlage entscheiden überlegene Taktik, effiziente Technik und eine starke Physis. Und doch stecken auch in diesem modernen Judo Kanos Lehren und bleiben gültig:
Ju no ri
Prinzip der Nachgiebigkeit
Sei-Ryoku-Zen-Yo – das technische Prinzip
Bester Einsatz von Geist und Körper
Ju-Ta-Kyo-Ei – das moralische Prinzip
Gegenseitige Hilfe für den wechselseitigen Fortschritt und das beiderseitige Wohlergehen
Judo hat seinen Stellenwert als Sport und Erziehungssystem gleichermaßen nachgewiesen. Es fördert die individuelle Entwicklung des Einzelnen sowohl physisch als auch psychisch. Es stellt aber auch im täglichen Training die Anforderungen im Team zu arbeiten und sich das Vertrauen seines Partners zu erarbeiten um sich auf ihn verlassen zu können.
Es bleibt zu wünschen, dass es, bei aller Modernisierung des Judo und bei der Zivilisierung der alten Kampfkünste, in Zukunft wieder Judoschüler und Judolehrer gibt, die sich auf einen Teil der traditionellen Techniken besinnen.